Jeannette Hagen ist ohne Vater aufgewachsen. Sie hat ihn gesucht, gefunden und einen Fremden getroffen. Darüber schrieb sie ein Buch.

Auf dem Teufelsberg atmet Jeannette Hagen tief durch. Hier oben hat sie den Überblick und das Gefühl, dass sich die Dinge in ihr besser ordnen. Der Teufelsberg ist der Ort, den sie gern ihrem Vater zeigen würde. Aber sie weiß, dass es dazu wohl nicht kommen wird. Jeannette Hagen kennt ihren Vater nicht. Nur einmal hat sie ihn getroffen, für wenige Minuten. Jetzt hat die 48-Jährige aus Wilmersdorf ein Buch darüber geschrieben, wie sie die Vaterentbehrung geprägt hat.

Vater, Mutter, Kind – so klassisch sah ihre Kindheit aus. Bis zu einem Familienfest, als zwei Cousinen ihr plötzlich sagten, dass ihr Stiefvater nicht ihr richtiger Vater sei. Die Welt der damals Neunjährigen geriet von einem auf den anderen Augenblick aus den Fugen. „Mir ist total schlecht geworden“, erinnert sie sich. Die Mutter, selbst überfordert von der Situation, versuchte ihre Tochter zu beruhigen, es sei doch nicht schlimm, der Stiefvater sei doch wie ein richtiger Vater zu ihr.

Sie hat den Vater idealisiert

Das half nicht. „Die bohrenden Fragen ließen sich nicht mehr wegkuscheln: Wer war der Vater? Warum hat er sich nie für mich interessiert?“ Sie schämte sich, fühlte sich ungewollt, sogar schuldig: Musste es nicht auch an ihr liegen, wenn der Vater keinen Kontakt wollte? Aber wer war er überhaupt? In ihren Sehnsüchten hat Jeannette Hagen ihren Vater idealisiert, in ihren Tagträumen war er „so einer wie Terence Hill oder Paul Newman“.

Von ihrer Mutter konnte sie kein realistisches Bild erwarten. Sie war 18 Jahre alt, als sie schwanger und von dem Mann, den sie liebte, verlassen wurde. Sie wusste nicht, dass er verheiratet war und auch seine Frau ein Kind erwartete. Mal hat die Mutter von der Eloquenz des Vaters geschwärmt, mal sei er der „Arsch“ gewesen.

Jeannette Hagen ist kein Einzelfall. Es gibt keine Zahlen, wie viele Kinder ohne Kontakt zu ihrem Vater aufwachsen. Aber bei ihren Recherchen für das Buch ist die Autorin, die auch als Coach arbeitet, vielen Betroffenen begegnet. Und entsprechende Internetforen sind voll von verzweifelten Berichten Jugendlicher und Erwachsener, die vergeblich Kontakt zu ihren Vätern suchen.

Berlin – Hochburg der Alleinerziehenden

Auch die wachsende Zahl Alleinerziehender lässt darauf schließen, dass Vaterentbehrung keine Ausnahme ist. In 20 Prozent aller Familien mit minderjährigen Kindern in Deutschland leben Vater und Mutter nicht zusammen. In Berlin, der Hochburg der Alleinerziehenden, liegt der Anteil nach der jüngsten Erhebung des Senats bei 32 Prozent. In neun von zehn Fällen leben die Kinder dann bei ihren Müttern. Das heißt nicht, dass dann automatisch der Kontakt zu den Vätern abbricht, aber in vielen Beziehungen läuft eine Trennung doch auf Kosten der Kinder.

Über „entsorgte“ Väter sind Bücher und Filme erschienen, es gibt für sie inzwischen viele Anlaufstellen. Vaterlose Kinder hingegen stehen weitgehend ohne Hilfe da. In Berlin bietet als eine der wenigen Beratungsstellen der Verein Kinderland Unterstützung bei der Vatersuche an (kind-vater.de).

Aus Sicht von Jeannette Hagen wäre es dringend nötig, wenn es hier mehr Angebote gäbe. „Mir hätte das sehr geholfen“, ist sie heute überzeugt. Zu viel hat sie mit sich allein ausgemacht, bis sie dann als Erwachsene über fast zwölf Jahre immer wieder therapeutisch begleitet wurde.

Auf die Suche nach ihrem Vater hat sie sich erst als Erwachsene begeben. Mehrere Anläufe hat sie dafür benötigt. Im Februar 1989 wurde ihrem Ausreisegesuch von Ost- nach West-Berlin stattgegeben. Sie wollte studieren und dafür Bafög beantragen. Im Antrag musste sie ihren leiblichen Vater angeben. Drei Wochen lag der Antrag auf ihrem Schreibtisch. „Dann zerriss ich ihn, beantragte kein Bafög. Ich wollte kein Geld von ihm, redete ich mir ein. Aber eigentlich hatte ich nur Angst. Angst davor, ihm zu begegnen und abgewiesen zu werden.“

Sohn sollte Opa kennenlernen

Mit 25 Jahren wurde Jeannette Hagen Mutter. Ihr Sohn sollte seinen Großvater kennenlernen. Sie fand seine ­Adresse heraus und schrieb ihm einen Brief, legte ein Foto seines Enkels bei. Eine Antwort bekam sie nie. Wieder vergingen Jahre. Jeannette Hagen trennte sich von ihrem ersten Mann, begann eine neue Beziehung, bekam ein zweites Kind. Und dann war er auf einmal da, dieser Moment, in dem sie zum Hörer griff. Vielleicht war es nur ein Vorwand, aber ihre Tochter litt unter einer schweren Neurodermitis, die es in der Familie mütterlicherseits nicht gab. Vielleicht konnte der Vater einen Hinweis geben?

Eine Frau meldete sich – die dritte Ex-Frau des Vaters, wie sie erfuhr. Der Mann wohne nicht mehr dort. Sie hätten sich getrennt, aber sie würde ihm Bescheid geben. Ein paar Tage später rief er tatsächlich zurück. 6.30 Uhr war es. Kalt und unfreundlich habe er geklungen, als er ihr sagte, dass es in seiner Familie keine Neurodermitis gebe. Das war alles. An einem Treffen war er nicht interessiert. Nach dem kurzen Telefonat kamen ihr die Tränen. Sie fühlte sich ausgeliefert und ohnmächtig. „Ich habe gemerkt, dass mein Vater viel mehr Raum in meinem Leben einnimmt, als ihm eigentlich zusteht.“

Kühle Abfertigung an der Haustür

Der Wunsch, ihren Vater zu treffen, ließ aber nicht nach. Sie bekam seine aktuelle Adresse heraus, 250 Kilometer wohnte er von Berlin entfernt. Sie fuhr einfach hin, klingelte. Im Buch beschreibt sie diese Begegnung so: „Mein Herz klopfte wie wild, meine Hände waren feucht, mein Magen krampfte sich zusammen. Das war nun der Moment, auf den ich so lange gehofft hatte.“

Als er die Tür öffnete, war sie erst einmal erstaunt über die Ähnlichkeit. Aber die schien nur ihr aufzufallen. „Von der Haustür fragte er, wer ich sei und was ich wolle. Er sah nicht so aus, als würde er mich freundlich empfangen.“ Ihr war klar, dass er kein Interesse an ihr hatte, und sie schaffte es nicht, sich zu erkennen zu geben, hinterließ eine Botschaft auf dem Briefkasten: „Manchmal holt uns das Leben ein.“

Jeannette Hagen wartet heute nicht mehr auf ihren Vater. Und wenn sie doch mal die Gefühle überrollen, dann lässt sie sie zu. Neulich hat sie mit ihrer jüngeren Tochter zum x-ten Mal den Disney-Zeichentrickfilm „Mulan“ angeschaut, darin geht es um ein heldenhaftes Mädchen. Am Ende nimmt der Vater Mulan in die Arme, sagt ihr, was für eine Ehre es sei, so eine Tochter zu haben. Immer wieder kommen Jeannette Hagen in diesem Moment die Tränen. Ihre Tochter kennt das schon. Aber dann können beide darüber lachen.

Jeannette Hagen: „Die verletzte Tochter“, Scorpio Verlag, 16,99 Euro, erscheint am 1. September 2015.