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Markus Becker

EU und Türkei Der hohe Preis für Erdogans Gunst

Die EU konnte sich in der Flüchtlingskrise nicht einigen, jetzt hängt sie vom Wohlwollen des türkischen Autokraten Erdogan ab. Will Europa seine Glaubwürdigkeit zurück, muss es Konsequenzen ziehen.

Zugegeben, die EU-Kommission steckte in der Zwickmühle: Hätte sie die Visafreiheit für die Türkei verschoben, hätte Ankara das Abkommen mit der EU womöglich platzen und Migranten wieder ungehindert nach Europa ziehen lassen. Deshalb war es wohl das kleinere Übel, dass die EU-Kommission nun die Aufhebung der Visumspflicht für türkische Bürger empfohlen hat.

Die EU zahlt jetzt den Preis für ihre Unfähigkeit, ihre Grenzen selbst zu sichern und die Flüchtlinge fair unter sich aufzuteilen: Sie ist dem Wohlwollen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ausgeliefert, und das kommt sie teuer zu stehen.

Es kostet sie nun ihre Glaubwürdigkeit in Sachen Menschenrechte. Eines der Kriterien, das Ankara bisher noch nicht erfüllt hat - und auch kaum zeitnah erfüllen wird -, ist die Meinungsfreiheit in der Türkei. Erdogan drangsaliert Kritiker nicht nur im eigenen Land, sondern neuerdings auch in der EU. Derzeit versucht Erdogans AKP, die Immunität zahlreicher oppositioneller Abgeordneter aufzuheben, denen dann die Strafverfolgung wegen Terrorverdachts droht.

Sollte das alles ein Versuch Erdogans sein, die Schmerzgrenze der EU zu finden, könnte er getrost weitermachen: Er hat sie bisher offenbar noch nicht gefunden.

Die Entscheidung der Kommission zur Visafreiheit für türkische Bürger zeigt das eindrücklich. Dabei ist sie für sich genommen nicht das Problem. Es ist die Art ihres Zustandekommens, die das Vertrauen der Bürger in die EU erneut erschüttert. An den 72 Kriterien "werden wir nicht herumspielen", sagte EU-Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans noch am vergangenen Donnerstag vor dem Europaparlament - obwohl da längst klar war, dass das Gegenteil geschehen würde.

Will die EU ihre Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, muss sie in der Flüchtlingsfrage zunächst die Wurzel des Problems angehen: den Egoismus einzelner EU-Staaten. Wenn jemand von einer Gemeinschaft profitiert - so wie Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei von der EU - und nichts zu geben bereit ist, muss das Konsequenzen haben. Ein Kollektiv, das Trittbrettfahrer nicht sanktioniert, kann auf Dauer nicht funktionieren - das gilt im Großen wie im Kleinen. Deshalb ist der Ansatz der Kommission, unsolidarischen Mitgliedern in einem neuen Asylsystem drakonische Strafen anzudrohen, der richtige.

Einen Preis wird auch die Türkei zahlen müssen. Die EU muss der türkischen Regierung klarmachen, dass der Weg, den sie in Sachen Menschenrechte und Meinungsfreiheit eingeschlagen hat, definitiv nicht in Richtung Europa führt. Und dass die Türkei am Ende ziemlich verlassen dastehen könnte, sollte Erdogan seine Position als Schleusenwärter in Sachen Migration missbrauchen.