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Die Lage am Samstag Liebe Leserin, lieber Leser,

der SPIEGEL erscheint ja seit anderthalb Jahren samstags, das bedeutet für uns, dass wir ihn in der Nacht von Donnerstag auf Freitag drucken. Wenn alles gut läuft, versenden wir donnerstags um 23.30 Uhr die letzten Daten an die Druckerei. Am Donnerstag vor zwei Tagen aber schlossen erst um 23 Uhr die Wahllokale in Großbritannien, und es war klar, dass es nach der Brexit-Abstimmung belastbare Ergebnisse erst am frühen Freitagmorgen geben würde.

Wir haben also diesmal die Abläufe im Haus geändert und in den Tagen vor der Brexit-Entscheidung drei Hefte vorbereitet: Eine Teilauflage mit einem Titel über Narzissmus, die wir schon drucken mussten, damit der SPIEGEL unsere Leser zum Beispiel im Ausland noch erreicht. Ein Heft, das nun nie erscheinen wird, weil es einem Verbleib der Briten in der EU gewidmet gewesen wäre. Ein Heft, das die Folgen des Brexit für die Welt analysiert.

Foto: PUNIT PARANJPE/ AFP

In den Tagen des Nachdenkens, des Schreibens und der Produktion haben wir hier in der Redaktion immer wieder darüber geredet, dass wir uns tatsächlich auf unterschiedliche Welten vorbereiten. Und nun haben wir eine unerfreuliche Variante dieser Welt: Großbritannien will raus aus der EU. Der SPIEGEL widmet diesem traurigen Ereignis seine Titelgeschichte. Mein Kollege Dirk Kurbjuweit schreibt in einem Essay: "Der Brexit ist eine Stunde null für Europa. Was bisher galt, gilt nicht mehr." Er bedauert dies, schreibt aber auch: "Eine Revision wird möglich."

Im Video: Brexit - Was jetzt?

DER SPIEGEL

Hass auf Politiker

So ist das jetzt, wir alle werden damit umgehen müssen, Politiker werden Lösungen finden müssen, damit nicht vollends zerbricht, was eben nicht nur Wirtschaftsunion, sondern auch Friedenswerk ist. Mit Polarisierung und auseinanderstrebenden Kräften haben es Politiker aber nicht nur in Großbritannien und vielen anderen Ländern zu tun, sondern auch in Deutschland. Meine Kollegen aus den politischen Ressorts beobachten schon länger, wie der Hass auf Politikerinnen und Politiker zunimmt: Mordankündigungen am Telefon, Beschimpfungen als "blöde Möse", tote Ratten vor der Haustür. "Man muss kein Schwarzmaler sein, um sich in diesen Tagen Sorgen um die Demokratie zu machen", schreiben meine Kollegen nach einer ausführlichen Recherche über den belasteten Alltag von Politikern.

Foto: © Reuters Photographer / Reuter/ REUTERS

Was Narben auslösen

Wissenschaft und Journalismus sind miteinander verwandt, jedenfalls wenn es um den Antrieb geht. Immer weiterforschen, immer weiterfragen, auch wenn die Antworten längst sicher zu sein scheinen. Soldaten können, das weiß man, völlig verändert aus einem Krieg zurückkehren. Sie zittern, finden kaum in den Schlaf, haben ständig Angst. Wissenschaftler und Journalisten haben dies immer wieder als Folgen traumatischer Erlebnisse beschrieben. Ein amerikanischer Neuropathologe aber hat jetzt die Gehirne toter Kriegsveteranen untersucht und winzige Narben im Gewebe gefunden. Er glaubt, dass die gewaltigen Druckwellen, die von Bombendetonationen ausgehen, diese Schäden auslösen können. Die Persönlichkeitsveränderungen, so legt ein Artikel meines Kollegen Manfred Dworschak dar, könnten also nicht nur Folgen einer vernarbten Seele sein, sondern auch Folgen eines vernarbten Gehirns.

Foto: Tim Wegner / DER SPIEGEL

Gewinner des Tages...

ist Georg Baselitz. Der Maler gewinnt gern, seit Jahrzehnten liefert er sich einen Wettbewerb mit anderen Größen seiner Zunft, mit Gerhard Richter zum Beispiel: Wer ist der Beste im ganzen Land? Dieses Mal aber lassen wir ihn hier für etwas anderes gewinnen, und es wird ihm gar nicht gefallen. Der SPIEGEL hat im sechsten Jahrzehnt mit Georg Baselitz zu tun, alle paar Jahre trafen Kulturredakteure ihn zum SPIEGEL-Gespräch, da ging es nie nur um Kunst, es ging immer wieder um dieses eine Thema, das ihn umtreibt und schmerzt: Deutschland. Auch im SPIEGEL-Gespräch in der aktuellen Ausgabe mit meiner Kollegin Ulrike Knöfel redet er darüber. Georg Baselitz - geboren 1938 in Sachsen, aufgewachsen in der NS-Zeit, dann im frühen Sozialismus der DDR, als Maler erst verkannt, dann gefeiert in einer noch jungen und instabilen Bundesrepublik - hat immer davor gewarnt, sich zu sicher zu sein in diesem Land, in Europa, im Westen. Frieden, Wohlstand, Freiheit waren für ihn immer gefährdet. Mit seiner Skepsis hat Baselitz nicht gern recht. In diesen Tagen aber gewinnt er leider genau damit.

Ihnen eine anregende Lektüre und ein schönes Wochenende,

Ihre

Susanne Beyer

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