Wer wie die Autorin Tanja Dückers von einem einzelnen Ereignis auf Allgemeines formuliert, kann gehörig daneben liegen. Jetzt, direkt nach dem Brexit, zum Schluss zu kommen, jedes Volk sei nicht fähig zu weitreichenden politischen Entscheidungen, könnte grundfalsch liegen. Wie bewerten wir nach dieser Scheinlogik die Schotten oder die Nordiren? Die haben sich mehrheitlich für den Verbleib in der EU ausgesprochen. Denen darf also eine Abstimmung zugestanden werden, weil sie weitreichender denken?


Nein, so einfach ist es nicht. Seit 1972 gab es auf nationaler Ebene 57 Volksabstimmungen über EU-Fragen. In 70 Prozent der Fälle haben sich die Bürgerinnen und Bürger für mehr europäische Integration ausgesprochen. Beim Brexit fiel das Votum anders aus. Deshalb steht aber nicht die direkte Demokratie infrage, sondern eher die EU, wie sie jetzt existiert. Die direkte Demokratie ist ein Spiegel der Gesellschaft, sie zeigt deren Zustand, ist aber nicht für diesen Zustand verantwortlich. Oder ist das Wahlrecht etwa verantwortlich für die Zusammensetzung von Parlamenten und Regierungen? Stellen wir es infrage, je nachdem, ob uns ein Wahlergebnis zusagt oder missfällt?

Der Brexit hat nur zu Tage gefördert, was seit Jahren in vielen Mitgliedsstaaten offensichtlich ist. Der Vertrauensvorschuss in die europäischen Institutionen ist – jedenfalls vonseiten der Bürger – zum guten Teil verbraucht. Europa gilt nicht nur in der britischen Bevölkerung als elitär, intransparent und bürgerfern, sondern auch in anderen Mitgliedsstaaten. Viele Menschen fühlen sich fremdbestimmt. Das ist nichts Neues, bestimmt nicht. Neu aber ist, dass die europäische Öffentlichkeit dagegen aufbegehrt. Seit dem Irakkrieg hat es keine so großen Demonstrationen mehr gegeben wie die gegen TTIP und Ceta. "Die Stunde ist gekommen, gemeinsam das Europa aufzubauen, das sich nicht um die Wirtschaft dreht, sondern um die Heiligkeit der menschlichen Person", damit hat es Papst Franziskus auf den Punkt gebracht und für diese Position gerade den Internationalen Karlspreis zu Aachen bekommen. Zu dieser Heiligkeit der Person gehören eben auch das Selbstbestimmungsrecht und soziale Gerechtigkeit.

Wir brauchen ein Europa der Bürger

Ralf-Uwe Beck ist Vorstandssprecher von Mehr Demokratie e.V. © Mehr-Demokratie e.V.

Europa zu demokratisieren und für Verhältnisse zu sorgen, in denen die Konzernlobbyisten weniger und die Zivilgesellschaft mehr Einfluss hat, ist eine der dringlichen Aufgaben. Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie könnten dabei Wege eröffnen, auf dem Vertrauen wiedererlangt werden kann. Wer jetzt die direkte Demokratie diskreditiert, verstellt die Wege zu einem demokratischeren und bürgernäheren Europa. Der Reflex, dem Volk nichts mehr zuzutrauen, weil es der EU misstraut, potenziert das Problem nur und zeugt von Angst vor der Bevölkerung.