Grundrechte kürzt man nicht! Die gesellschaftliche und parlamentarische Debatte um Sanktionsfreiheit bei der Grundsicherung

Ronald Blaschke 06.10.2015 Druckversion

15684033590_e4b4abc466_oAm 1. Oktober 2015 wurde im Bundestag über drei Anträge debattiert und abgestimmt (Erstmeldung hier). Die zum Teil emotional geführte Debatte verfolgten – neben vielen anderen – Inge Hannemann, Susanne Wiest und Ralph Boes auf der Zuschauertribüne. Sie waren von der Fraktion DIE LINKE eingeladen worden. Die Debatte kann im Plenarprotokoll nachgelesen werden (S. 12344 bis S. 12357) und ist ab Stunde 6:17 in der Videoaufzeichnung (http://dbtg.tv/fvid/5888582) zu sehen.

Abgestimmt wurde der Antrag der Fraktion DIE LINKE „Gute Arbeit und eine sanktionsfreie Mindestsicherung statt Hartz IV“ (Antrag auf die Einführung einer sanktionsfreien, individuellen Mindestsicherung von 1050 Euro statt Hartz IV, Bundestagsdrucksache 18/3549). Der Ausschuss für Arbeit und Soziales hatte mit den Stimmen der Regierungsfraktionen empfohlen, den Antrag abzulehnen. Die Abstimmung im Plenum wird im Plenarprotokoll so wiedergegeben: „Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.“ Das Plenum folgte der Empfehlung des Ausschusses also mit den Stimmen der Fraktionen der Großen Koalition, bei Enthaltung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Abgelehnt.

Ein zweiter Antrag der Fraktion DIE LINKE wurde namentlich abgestimmt, der Antrag „Sanktionen bei Hartz IV und Leistungseinschränkungen bei der Sozialhilfe abschaffen“ (Bundestagsdrucksache 18/1115). Auch hier hatte der Ausschuss die Ablehnung empfohlen. Das Abstimmungsergebnis ähnelt dem oben genannten – die Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD lehnten den Antrag ab, die Abgeordneten von  enthielten sich. Schaut man sich allerdings das Ergebnis der namentlichen Abstimmung an (S. 12359 bis S. 12362), stellt man fest, dass drei Abgeordnete von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die Beschlussempfehlung, also für den Antrag der Fraktion DIE LINKE gestimmt haben: Hans-Christian Ströbele, Lisa Paus und Katharina Dröge. Alle drei befürworten das Grundeinkommen. Lisa Paus und Katharina Dröge begründeten ihre Zustimmung zur Abschaffung aller Sanktionen und Leistungseinschränkungen, also zum Antrag der Fraktion DIE LINKE, in einer gesonderten Erklärung so (vgl. Plenarprotokoll, S. 12419 f.): „Soziale Teilhabe ist ein Grundrecht, das man sich nicht erst verdienen muss. Deswegen sind wir gegen jede Art von Sanktionen bei Hartz IV. Die Grüne Fraktion fordert in ihrem Antrag „Existenzminimum und Teilhabe sicherstellen – Sanktionsmoratorium jetzt“ ein Sanktionsmoratorium und langfristig eine stringentere Handhabung von Sanktionen. Das ist ein Anfang, doch das geht aus unserer Sicht nicht weit genug. Daher stimmen wir nicht nur dem Antrag unserer Fraktion zu, sondern auch dem der Linken, der eine komplette Abschaffung der Sanktionen bei Hartz IV fordert, und sagen bei beiden Anträgen Nein zur Beschlussempfehlung der Regierungsfraktionen.“ Verwunderlich ist, dass sich nicht auch andere das Grundeinkommen befürwortende Abgeordnete der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN deutlich gegen die Grundrechteverletzung durch Sanktionen positionierten.

Der dritte Antrag kam von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: „Existenzminimum und Teilhabe sicherstellen – Sanktionsmoratorium jetzt“ (Bundestagsdrucksache 18/19639). Er fordert u. a. ein Sanktionsmoratorium und die Entschärfung der derzeitigen Sanktionspraxis. Allerdings sollen nach dem Moratorium erneut Sanktionen möglich sein. So heißt es im Antrag: „a. der Grundbedarf sowie die Kosten der Unterkunft und Heizung werden von Sanktionen ausgenommen; deshalb dürfen höchstens 10 Prozent des Regelsatzes gekürzt werden; bei Kürzungen über 10 Prozent des Regelsatzes sind antragslos entsprechende Sachleistungen zu erbringen.“ Diese Formulierung ist logisch und fachlich widersprüchlich. Unterstellt sie doch erstens einen Grundbedarf unterhalb des Existenzminimums. Zweitens wird behauptet, höchstens 10 Prozent Kürzungen zuzulassen, dann wird aber von mehr als 10 Prozent Kürzung geschrieben. In der namentlichen Abstimmung über diesen Antrag stimmten CDU/CSU und SPD für die Ablehnungsempfehlung des Ausschusses – bis auf Marco Bülow von der SPD (seine persönliche Erklärung im Plenarprotokoll auf S. 12419). Die Fraktion DIE LINKE enthielt sich. Sie vertrat die Auffassung, dass das Existenzminimum ein Grundrecht ist, das man sich nicht verdienen muss und das nicht gekürzt werden kann (siehe den Debattenbeitrag von Katja Kipping (Plenarprotokoll, S. 12349, siehe auch Pressemitteilung von Katja Kipping).

Man merkte der Debatte im Bundestag an, dass der gesellschaftliche Druck in Richtung Abschaffung der Sanktionen steigt. So hatte die einschlägige Petition von Inge Hannemann über 90.000 UnterstützerInnen. Das Sanktionshungern von Ralph Boes führte zu vielen Schreiben an die Bundeskanzlerin, die Ministerin für Arbeit und Soziales Andrea Nahles und an Abgeordnete. Die jüngste E-Mailaktion, initiiert von Inge Hannemann, führte zu mehreren Hundert E-Mails an Bundestagsabgeordnete, die nun persönlich aufgefordert sind, zu erklären, warum sie für Grundrechtsverletzungen sind. Auch bei den großen Wohlfahrtsverbänden regt sich der Widerstand gegen das Sanktionsregime. Nachdem die Diakonie und der Paritätische Wohlfahrtsverband sich klar für die Abschaffung aller Sanktionen ausgesprochen haben, hat nun das Bündnis von Wohlfahrtsverbänden, DGB und Betroffenenorganisationen, die Nationale Armutskonferenz, nachgezogen – am Tag vor der Debatte im Deutschen Bundestag. In der Pressemitteilung der Nationalen Armutskonferenz vom 30. September 2015 heißt es: „Sozialleistungen wie Hartz IV müssen ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleisten – das hat das Bundesverfassungsgericht 2014 bekräftigt. Dieses Recht darf nicht unter Sanktions- oder Finanzierungsvorbehalt stehen.“

Der Kampf für Grundrechte und gegen das Unrechtssystem Hartz IV lohnt sich. Kompass und Ziel ist eine solidarische Gesellschaft, die jedem Menschen das unbedingte Recht auf Existenz und gesellschaftliche Teilhabe zugesteht, durch ein Grundeinkommen, durch gebührenfreien Zugang zur öffentlichen Infrastruktur und Dienstleistung. Um mit Erich Fromm zu sprechen, der 1966 schrieb: „Das garantierte Einkommen würde nicht nur aus dem Schlagwort ‚Freiheit‘ eine Realität machen, es würde auch ein tief in der religiösen und humanistischen Tradition des Westens verwurzeltes Prinzip bestätigen, daß der Mensch unter allen Umständen das Recht hat zu leben. Dieses Recht auf Leben, Nahrung und Unterkunft, auf medizinische Versorgung, Bildung usw. ist ein dem Menschen angeborenes Recht, das unter keinen Umständen eingeschränkt werden darf, nicht einmal im Hinblick darauf, ob der Betreffende für die Gesellschaft ‚von Nutzen ist‘.“

Foto: Reinhard Link, veröffentlicht unter CC BY-SA 2.0

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