Innere Performanz. Formen theatraler Frömmigkeit in niederdeutschen Gebetszyklen der Lüneburger Frauenklöster und des Hamburger Beginenkonvents

1000 Worte Forschung: Masterarbeit (Deutschsprachige Literaturen) Universität Hamburg, abgeschlossen im August 2013

 

Als Formen theatraler Frömmigkeit diskutiert die Forschung eine ganze Reihe komplex aufeinander bezogener Phänomene der religiösen Kultur des Spätmittelalters: Geistliche Spiele und szenisch gestaltete paraliturgische Feiern stehen traditionell im Zentrum der Überlegungen; die rememorativ-allegorische Auslegungstradition der Messe wird als theatrale Hermeneutik befragt und problematisiert. Aber auch die Meditation als private Frömmigkeitspraxis rückt unter dem Gesichtspunkt mimetischer Angleichung der Meditierenden an Christus oder über die Metaphorik eines inneren Theaters in den Blick. Wie sich die ‚Theatralität‘ dieser Phänomene jeweils beschreiben lässt, bildet dabei eine Leitfrage des aktuellen kulturwissenschaftlichen Interesses.[1]

In diesem Problembereich setzt auch meine Untersuchung mittelniederdeutscher Gebetszyklen des Spätmittelalters an. Die skizzierten Formen ‚theatraler‘ Frömmigkeit werden hier im Rahmen eines inneren performativen Geschehens aufgerufen. Die Zyklen sind an der Liturgie des Kirchenjahres orientiert und wurden im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts auf der Grundlage umfangreicherer Orationale-Typen im Zuge der Reformen der Lüneburger Frauenklöster erstellt.[2] Sie sind in Handschriften der Klöster Ebstorf und Lüne überliefert und dienten hier vermutlich zunächst als Lektüre für Laienschwestern. Entscheidend ist, dass sie sich darüberhinaus im norddeutschen Raum verbreiteten und auch das Gebetsrepertoire der Beginen in Hamburg erneuerten. Überliefert in sechs der vierzehn erhaltenen Konventshandschriften ergeben sie das mit Abstand umfangreichste Textkorpus innerhalb dieser Überlieferungsgruppe.[3]

Ihr auffälligstes Strukturmerkmal bilden szenische und dialogische Passagen, die durch Rubriken auf Höhepunkte der Liturgie bezogen sind: Eine Höllenfahrtsszene findet sich im Zusammenhang der Elevatio crucis-Feier des Ostermorgens, Dialoge von Gott und betender Seele werden im Rahmen der weihnachtlichen und österlichen Eucharistiefeiern sowie anlässlich des Karfreitags inszeniert. Diesen über präsentische Inquit-Formeln (De lozer sprykt:…) oder einfache Sprecherangaben (Adam:…) ‚dramatisierten‘ Abschnitten ist gemeinsam, dass sie sich auf mentaler Ebene abspielen. Sie erweitern den im Kirchenraum vollzogenen Ritus im Raum subjektiver memoria. Als Meditationstexte, die diesen Raum ausgestalten und mit heilsgeschichtlich handelndem Personal füllen, affizieren sie die inneren Sinne (sensus interiores). Der innere Mensch (homo interior) erscheint in den Gebetszyklen als priorisierter Schauplatz heilsgeschichtlicher Vergegenwärtigung und göttlicher Gegenwart im liturgischen Geschehen.

Insbesondere dort, wo über dramatisierte Textstrukturen ein inneres Parallelgeschehen zu liturgischen oder paraliturgischen Vollzügen angeboten wird, stellte sich die Frage, inwiefern sich das Gebet als ‚theatral‘ charakterisieren lässt. Der Begriff der Theatralität kann in diesem Fall nicht problemlos von einer engeren theatersemiotischen Definition ausgehen, sofern diese auf eine äußere, mimetisch codierte und körpergebundene Zeichenhandlung abhebt (A spielt B und C schaut zu). Er schien mir aber dennoch hilfreich zu sein, um eine Unterscheidung treffen zu können zwischen Gebeten oder Meditationen, die von dramatisiertem Text ausgehen und solchen, die auf nicht-dramatisiertem Text beruhen. Die synchron zu äußeren Vollzügen konzipierte Inszenierung performativer Dialoge im Innenraum – sie werden dezidiert im Herzen (herten) der Lesenden verortet – beschreibe ich dabei als ‚innere Theatralisierung‘. Die Betenden erhalten eine Textinstanz (das betende Ich), die mit anderen Textinstanzen (z. B. Christus, Adam und die aus der Vorhölle befreiten Seelen) unter den Bedingungen innerer Räumlichkeit in Interaktion tritt. Sie können so in einem höheren Maß an der vergegenwärtigten Handlung partizipieren, als dies ohne dramatisierten Text möglich wäre. In diesem partizipativen Effekt wird zugleich das Reformanliegen der Gebetszyklen erkennbar: Ihre Erfahrungsmodelle ermöglichen eine Erneuerung und Intensivierung der religiösen Praxis.

Die beschriebene Technik der ‚inneren Theatralisierung‘ erwies sich in den Gebetszyklen als äußerst flexibel einsetzbar; sie verleiht ihnen unter verschiedenen textuellen, situativen und medialen Bedingungen ein entscheidendes Wirkungsmoment. Insbesondere die für die weihnachtliche und österliche Eucharistie konzipierten Dialoge von Gott und Seele illustrieren ihr Potenzial. Anders als etwa die Texte zur Elevatio crucis am Ostermorgen überführen sie nicht nur die Vergegenwärtigung des historischen Heilsgeschehens, sondern auch die liturgische Realpräsenz Christi in einen theatralisierten Darstellungsmodus. Wie die häufig bemerkte ‚multisensorische Ausgestaltung‘ der Liturgie zielen sie auf einen sinnlichen ‚Präsenzeffekt‘ (Gumbrecht) ab. Sie leisten für die inneren Sinne, was die liturgische Inszenierung der Realpräsenz für die äußeren Sinne nicht leisten kann, weil sie an die Gestalten von Brot und Wein gebunden ist – sie lassen Christus als körperlich Anwesenden vor den inneren Augen der Betenden erscheinen. Die Eucharistiedialoge sind das Skript für eine sich während der Kommunion ereignende Unio mystica, in der Christus selbst sinnlich erfahr- und anschaubar wird.

Dass die ‚innere Theatralisierung‘ auch im Zusammenspiel mit Bildmedien eingesetzt wurde, konnten die Passionsbetrachtungen anlässlich des Karfreitags zeigen. In ihrem Verlauf werden die Betenden dazu aufgefordert, ein Bild des Kreuzes zur Hand zu nehmen und vor diesem ihrer compassio Ausdruck zu verleihen. An diesem Punkt lässt der Text den Gekreuzigten selbst sich an die Betenden wenden und sie direkt adressieren. Das Andachtsbild erfährt eine ‚innere Theatralisierung‘, mit der Pointe, dass nun Gott selbst den Blick lenkt und die Lesenden zur Meditation anleitet. Im Zusammenhang von Passionsgebeten ist dieses Verfahren noch in einem weiteren und bedeutend älteren Beispiel bekannt. Im Engelberger Gebetbuch (zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts) findet sich ein ganz ähnlich funktionierender Text, auf den Forscher wie Peter Ochsenbein und Johanna Thali bereits aufmerksam gemacht haben.[4] Er zeigt, dass die von den Gebetszyklen angewendeten Strategien auf ein tradiertes und überregional verbreitetes literarisches Wissen zurückgreifen. Für weitere geplante Forschungen ist damit die Frage aufgeworfen, ob und über welche Vermittlungswege sich die Entwicklung dieser Strategien seit dem 14. Jahrhundert und früher nachverfolgen lässt.


[1] Hier seien nur zwei Beiträge genannt, an denen ich meine Fragestellung orientiert habe: Müller, Jan-Dirk: Realpräsenz und Repräsentation. Theatrale Frömmigkeit und Geistliches Spiel. In: Ziegeler, Hans-Joachim (Hg.): Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters. Tübingen 2004, S. 113–133; Petersen, Christoph: Ritual und Theater. Meßallegorese, Osterfeier und Osterspiel im Mittelalter. Tübingen 2004 (MTU 125).

[2] Zur prominentesten Überlieferungsgruppe, den Medinger Orationalien, vgl. das von Henrike Lähnemann geleitete digitale Editionsprojekt: http://research.ncl.ac.uk/medingen/public_extern/

[3] Die Handschriften werden als Signaturengruppe cod. conv. in der SUB Hamburg aufbewahrt. Text- und Überlieferungsgeschichte der Gebetszyklen habe ich in einem Aufsatz nachgezeichnet, der 2014 erscheinen soll: Gebetszyklen der Hamburger Beginen im Kontext der Gebetbuchkultur der Lüneburger Frauenklöster. In: Schmidt, Bernward/Sorace, Marco A./Voigt, Jörg (Hgg.): Beginen. Eine religiöse Lebensform von Frauen in Geschichte und Gegenwart. Fribourg und Stuttgart (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte).

[4] Vgl. zusammenfassend Thali, Johanna: Strategien der Heilsvermittlung in der spätmittelalterlichen Gebetskultur. In: Herberichs, Cornelia/Kiening, Christian/Dauven van-Knippenberg, Carla (Hgg.): Medialität des Heils im späten Mittelalter. Zürich 2009 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 10), S. 241–278, hier S. 260f.



Diesen Blogbeitrag zitieren
Christian Schmidt (2013, 20. Oktober). Innere Performanz. Formen theatraler Frömmigkeit in niederdeutschen Gebetszyklen der Lüneburger Frauenklöster und des Hamburger Beginenkonvents. Mittelalter. Abgerufen am 29. März 2024, von https://doi.org/10.58079/rgsc

Christian Schmidt

Christian Schmidt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Hamburg

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Eine Antwort

  1. 21. Februar 2014

    […] Qualifikationsprojekte vorgestellt werden. Die Bandbreite reicht hier von Examensarbeiten wie der Christian Schmidts, über Dissertationen wie die Anita Sauckels, bis hin zu Drittmittelprojekten wie dem DFG-Netzwerk […]

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